Die Antwort von Lama Ole Nydahl:
Es kommt bei der Betrachtung der Störgefühle sehr stark auf die Sichtweise an. Aus der Perspektive des Adlers ist alles Weisheit, aus der Perspektive des Maulwurfs ist alles Störgefühl. Da nur wenige die Adlerperspektive nutzen, erleben sie Zorn, Eifersucht usw. Aber wenn man nicht auf diese Gefühle eingeht, wenn man sie im Geist entstehen und sich dort auch wieder auflösen lässt, dann entsteht eine ganz neue Dimension, eine ganz neue Erfahrung, so wie Kohlestaub zu Diamanten umgewandelt werden kann.
Wenn sich Zorn wieder auflöst, entsteht die spiegelgleiche Weisheit. Wie ein Spiegel, der alles zeigt, was ist. Man sieht die Dinge und erkennt sie als das, was sie sind. Man fügt nichts hinzu und nimmt nichts weg. Diese Fähigkeit, klar zu sehen, wird auch mit der Klarheit eines Diamanten verglichen.
Bei Stolz hat man einerseits die Möglichkeit, den engen „Ich bin besser als ihr!“-Stolz in den großen „Wir sind alle toll!“-Stolz umzuwandeln. Und andererseits, wenn sich der Stolz im Geist wieder auflöst, dann kann man plötzlich erkennen, dass alles aus ganz vielen Bedingungen zusammengesetzt ist. Nichts entsteht aus sich heraus, alles hängt voneinander ab. Das wird die Weisheit der Wesensgleichheit genannt, denn dadurch bekommt alles denselben Geschmack des Reichtums, wie Juwelen, die aus sich heraus strahlen.
Wenn sich Begierde im Geist wieder auflöst, dann entsteht die unterscheidende Weisheit, also die Fähigkeit, zu unterscheiden. Man kann dann die Dinge einzeln sehen und auch als Teil eines Ganzen. Das ist eine sehr weibliche Weisheit, die Weisheit einer Mutter, die immer weiß, was die Kleinen vorhaben.
Aus der Eifersucht entsteht wiederum Erfahrungsweisheit, die Fähigkeit zu erkennen, welche Ursachen zu welchen Wirkungen geführt haben.
Und schließlich kann man auch die Unwissenheit selbst in Weisheit umwandeln, in die „Alles durchdringende Weisheit“. Erst sitzt man noch da und versteht überhaupt nichts, und dann plötzlich verschwinden diese Schleier durch ein Loch im Erdboden oder wie Wolken, die sich auflösen. Man wird fähig, die Geschehnisse zu durchdringen, nicht nur mit Augen und Ohren, sondern vollständig. Man weiß, wer anruft, wenn es klingelt, man denkt an einen Freund und im Briefkasten ist ein Brief von ihm.