Antwort von Lama Ole Nydahl:
Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit Zorn und auch mit anderen Störgefühlen. Es gibt drei Grundtypen von Menschen. Einige sind eher verwirrt, einige sind eher zornig und einige sind eher gierig. Mit allen drei Typen kann man auf drei Ebenen arbeiten.
Bei Zorn kann man auf der äußeren Ebene versuchen, aus dem Zorn Mitgefühl zu machen. Man kann den Menschen Gutes wünschen, vor allem wenn man erkennt, dass sie viele Dinge erleben, die ihnen nicht gefallen, die sie in Schwierigkeiten bringen. Auf der inneren Ebene arbeitet man auf der Meditationsebene. Man gibt dann viel Zeit in die aufbauende erste Phase der Meditation und die verschmelzende Phase, in der Buddha zu Licht wird und mit einem selbst verschmilzt, hält man sehr kurz. Auf der dritten Ebene vom Diamantweg (Mahamudra bei uns oder Maha-Ati bei den Nyingmapas) gibt man keine Kraft mehr in das Gefühl. Man kann den Zorn wie einen Dieb in ein leeres Haus kommen lassen. Er kann rumlaufen, er kann in die Schubladen gucken, er kann unter den Teppich gucken, alles ist leer. Er bekommt keine Energie. Und wenn er dann verschwindet, kommt er so leicht nicht wieder. Da kann man auch an ein Lied von Lili Marleen denken: Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei.
Wenn du Ursache und Wirkung von Zorn anschaust, kannst du erkennen, dass weder Aushalten und Schweigen noch die Aggression ausleben dir helfen, besser mit ihm umgehen zu können. Sobald du nicht mehr zornig bist, sollst du handeln. Zorn ist verwirrt. Man macht viele Fehler, während man zornig ist. Du handelst dann wie unter Alkoholeinfluss, du hast rote Augen, du redest komisch, machst Dinge mit den Händen kaputt, du kannst nicht gut Auto fahren und du kannst dich verletzen. Adrenalinvergiftung ist genau dasselbe. Ohne Zorn kannst du in einer Situation viel besser handeln und triffst auch besser den Kern der Sache.
Du musst wissen, dass Zorn nicht unser Freund ist. Zorn gibt zwar Wärme, aber es ist so, als würden wir unser Geld verbrennen und nicht die Kohle oder das Öl. Innerhalb von sehr kurzer Zeit brennt der Zorn ganz viele gute Eindrücke, die im Geist angehäuft sind, weg. Er brennt die Freude aus Dir heraus, die sonst zu mehr Entwicklung hätte führen können. Hast du den Zorn einmal klar als Feind entlarvt, musst du ihn fangen und besiegen.
Zorn ist eine echte Schwäche. Er gibt ein vermeintliches Gefühl von Stärke, aber in Wirklichkeit schadet er. Wenn man sich dessen sicher ist, also wirklich gesehen hat: ,,Der Zorn ist nicht mein Freund, er hilft mir nicht, er schadet mir nur’’, dann kann man das Gefühl entfernen.
Für diese Arbeit gibt es einen Weg mit drei Ebenen:
1. Gib dem Tiger weniger zu essen, damit er nicht zu laut ist. Er lebt nur von der Energie, die du reinsteckst. Paß auf die Situation auf, in der er dich immer ins Wasser schmeißt.
2. Check genau, wie der Tiger funktioniert, wie er hin- und herläuft und die Zähne fletscht und mit den Augen rollt. Beobachte genau, wie er arbeitet – also check wie das Gefühl ist.
3. Reite den Tiger. Wenn du ihn kennst, verwende seine Energie als Rohstoff-Energie für all die Arbeiten, die vor der Nase liegen.
1. Ebene: Vermeiden!
Solange du dich nicht besonders stark fühlst, wenn dir eine Situation zu nahe kommt und du keine Kontrolle hast, rate ich, die entsprechende Situation zu vermeiden. Es ist besser, als dass man sich seinen Freunden gegenüber lächerlich macht oder Freundschaften kaputt macht. Es ist nicht feige, Schwierigkeiten und Ärger aus dem Weg zu gehen, wenn man weiß, dass man hier normalerweise sehr zornig wird. Dann lieber spazieren gehen, an die frische Luft, das ist viel gesünder.
Normalerweise kann man aber gar nicht besonders viel vermeiden, denn der Grund, dass man zornig wird, ist ja, dass man selbst Schwierigkeiten hat. Wenn man selbst keinen Zorn hat, dann kann der Zorn auch nicht ausgelöst werden. Aber wenn man die Schwingung dieses Gefühls in sich hat, kann es aktiviert werden.
Um solchen Schwierigkeiten nicht immer ausweichen zu müssen, kann man lernen, Abstand zu gewinnen. So gewinnt man Kraft, fühlt sich stärker und besser und kann auf der 2. Ebene weiterarbeiten.
2. Ebene: Mitgefühl entwickeln!
Man kommt immer wieder in Situationen, in denen Zorn hochkommt. Dann kann man das Negative umdrehen und kann Zorn in Mitgefühl umformen.
Um etwas inneren Abstand zu bekommen, kann man sich klar machen: „Früher war der Zorn nicht da, später wird er auch nicht da sein, und wenn ich jetzt darauf eingehe, gibt es nur Leid.“ Oder man baut sich einen Schutzwall auf, indem man die Situation wie im Traum erlebt. D.h. alles einfach nur beobachten wie einen Film. Beobachte die einzelnen Szenen, zerschneide sie mit Salamitechnik in die einzelnen Sequenzen. Mit dieser Technik wirst du fähig zu handeln, wo du sonst vielleicht starr wirst und unlogisch im Verhalten. Z.B. in einer Situation, in der plötzlich jemand mit einem Messer auf dich zukommt. Oder wenn jemand ständig schlecht über dich spricht, kannst du deine Reaktion in Mitgefühl umwandeln und denken: „Die Leute haben so viel Schwierigkeiten, die brauchen mich als Sündenbock, weil sie selber ein echtes Problem haben. Und sie müssen sich selbst 24 Stunden am Tag aushalten, während ich nur 10 Minuten mit ihnen zusammen sein muss.’’
3. Ebene: Den Zorn umwandeln in spiegelgleiche Weisheit!
Du bist zornig. Aber du tust nichts. Du beobachtest, wie der Zorn im Raum des Geist entsteht. Wie er sich wieder auflöst. Wie du daran denkst zu handeln. Den anderen am liebsten ein paar Tassen Kaffee ins Gesicht schleudern würdest oder die Tür zuknallen. Aber du tust es nicht. Du sitzt nur da – wie ein Baumstamm (so sagen die Tibeter) – und du siehst, wie sich das Gefühl wieder auflöst. Und du nimmst wahr, dass Gefühle kommen, sich ändern und wieder gehen. Du bist dir bewusst über das, was da ist, aber du schlägst keinen und schreist nicht und greifst nicht zur Pistole, sondern du sitzt nur da und beobachtest, wie es vorbeigeht. Die Störgefühle wecken dein Interesse immer seltener und eines Tages bleiben sie ganz weg.
Du erlebst den Zorn wie ein schlechtes Programm im Fernseher, du musst nicht hingucken, musst ihn nicht ernst nehmen. Dann geht der Zorn, wie die Wellen im Meer kommen und gehen und wenn die Welle, das Gefühl, später wieder in den Geist zurückkehrt, ändert es sich. Plötzlich hast du Erfahrungen von totaler Klarheit und innerer wirklicher Einsicht und völligem Verständnis. Solche Erfahrungen von überpersönlichen, ganz klaren, spiegelähnlichen Zuständen kommen dann immer stärker, bis du fähig bist, diesen Zustand der Weisheit zu halten. Das ist die Umformung von Zorn. Man nennt es „Spiegelähnliche Weisheit“, und die entsteht bei jedem, der es schafft, seine Gefühle sich wieder im Raum auflösen zu lassen.
Und dann ist es wie mit Dominosteinen. Die Dominos kippen sich nacheinander um, genau so kippt der Zorn den Stolz, schiebt die Anhaftung an, entfernt die Eifersucht und zuletzt löst er sogar die Dummheit auf und dann ist alles Weisheit.
4. Zusätzliche Möglichkeit: Die Energien nutzen lernen!
Wenn du das Störgefühl mit dem 100silbigen Reinigungsmantra oder mit Mitgefühl beruhigt hast, hast du wieder die Kontrolle. Du kannst nicht mehr explodieren. Wenn das Gefühl am Abklingen ist – es ist der Moment, nachdem die höchste Welle vorbei ist – aber die Energie selbst ist noch da, kann dich aber nicht mehr dazu verführen, dass du irgendetwas Negatives tust. Dann kannst du sie verwenden für Arbeiten, die sowieso getan werden müssen. Erkennst du Deinen Zorn, den Stolz, die Eifersucht usw., dann wasch das Auto, das Klo, putz das Haus, grab den Garten um, erledige die 30 Telefonate und 50 Briefe…
Es hat auch keinen Sinn, aus den Gefühlen Dramen zu entwickeln, sie auszuarbeiten und vielleicht auf ein Kissen einzuschlagen, oder in der Vorstellung jemand zu verprügeln oder so was.
Ich würde es nicht tun, weil der Geist ein dickes Gewohnheitstier ist. Er ist, was man hineingibt. Zeigt man sein Gefühl und seinen Zorn, entdeckt man bei nächster Gelegenheit, dass er mit noch größerer Kraft wiederkommt. Und nach einiger Zeit sind plötzlich alle Freunde weg, denn keiner mag zornige Leute. Zorn erzeugt schlechte Schwingungen. Dem Zorn keine Kraft geben, nicht daran denken, eher so peinlich ins Eck schieben, bis er von selber abstirbt. Und stattdessen etwas Nützliches tun!
Störgefühle sind wie Wolken, die an der Sonne vorbeiziehen, wie die Wellen im Wasser, die kommen und gehen, man muss sie nicht ernst nehmen, aber das Wasser darin kann sehr nützlich sein.
Tatsächlich ist unsere Sicht von Störgefühlen im Buddhismus sehr verschieden von den anderen Religionen. Im Diamantweg sehen wir alle Störgefühle als Rohstoff zur Erleuchtung.